Das Schneeglöckchen
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'Willkommen! Willkommen!' sang und klang jeder Strahl, und die Blume erhob sich über den Schnee in die Welt des Lichtes hinaus. Die Sonnenstrahlen streichelten und küßten sie, bis sie sich ganz öffnete, weiß wie Schnee und mit grünen Streifen geputzt. Sie beugte ihr Haupt in Freude und Demut.
'Liebliche Blume!' sang der Sonnenstrahl. 'Wie frisch und leuchtend du bist! Du bist die erste, du bist die einzige, du bist unsere Liebe! Du läutest den Sommer ein, den schönen Sommer über Land und Stadt! Aller Schnee soll schmelzen, der kalte Wind wird fortgejagt! Wir werden gebieten. Alles wird grünen! Und dann bekommst du Gesellschaft, Flieder und Goldregen und zuletzt die Rosen; aber du bist die erste, so fein und leuchtend!'
Das war eine große Freude. Es war, als sänge und klänge die Luft, als drängen die Strahlen des Lichts in ihre Blätter und Stengel. Da stand sie, fein und leicht zerbrechlich und doch so kräftig in ihrer jungen Schönheit. Sie stand in weißem Gewande mit grünen Bändern und pries den Sommer. aber es war noch lang bis zur Sommerzeit, Wolken verbargen die Sonne, scharfe Winde bliesen über sie hin.
'Du bist ein bißchen zu zeitig gekommen', sagten Wind und Wetter. 'Wir haben noch die Macht. Die bekommst du zu fühlen und mußt dich dreinfinden. Du hättest zu Hause bleiben und nicht ausgehen sollen, um Staat zu machen; dazu ist es noch nicht die Zeit.
Es war schneidend kalt. Die Tage, die nun kamen, brachten nicht einen enzigen Sonnenstrahl; es war ein Wetter, um in Stücke zu frieren, besonders für eine so zarte, kleine Blume. Aber sie trug mehr Stärke in sich, als sie selber wußte. Freude und Glauben an den Sommer machten sie stark, er mußte ja kommen; er war ihr von ihrer tiefen Sehnsucht verkündet und von dem warmen Sonnenlichte bestätigt worden. So stand sie voller Hoffnung in ihrer weißen Pracht, in dem weißen Schnee und beugte ihr Haupt, wenn die Schneeflocken herabfielen, während die eisigen Winde über sie dahinfuhren.
'Du brichst entzwei!' sagten sie. 'Verwelke, Erfriere! Was willst du hier draußen! Weshalb ließest du dich verlocken! Die Sonnenstrahlen haben dich genarrt! Nun sollst du es gut haben, du Sommernarr!'
'Sommernarr!' schallte es durch den kalten Morgen, den 'Sommernarr' heißt im Dänischen das Schneeglöckchen. 'Sommernarr' jubelten ein paar Kinder, die in den Garten hinabkamen. 'Da steht einer, so lieblich, so schön, der erste, der einzige!'
Und die Worte taten der Blume so wohl, es waren Worte wie warme Sonnenstrahlen. Die Blume fühlte in ihrer Freude nicht einmal, daß sie gepflückt wurde. Sie lag in einer ŽKinderhand, wurde von einem Kindermund geküßt und hinein in die warme Stube gebracht, von milden Augen angeschaut, in Wasser gestellt, so stärkend, so belebend. Die Blume glaubte, daß sie mit einem Male mitten in den Sommer hineingekommen wäre.
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